Die Inflation der Grüße

Von Hendrik Achenbach

Wir senden einander täglich zahllose E-Mails. Dabei grüßen wir uns unablässig. Ein Verzicht aufs Grüßen könnte unser Kommunikationsverhalten ändern: Es würde effizienter, ehrlicher und vielleicht sogar persönlicher.

Wenn ich online nach Informationen zur richtigen Gestaltung von E-Mails suche, erstaunt mich die schiere Menge der rückwärtsgewandt wirkenden Ratgeber. Während die technische Entwicklung (Beispiele: Skype, Facebook, Google Wave) die klassische E-Mail als Medium bereits wieder zu verdrängen scheint, sind immer noch Ratgeber online, die stocksteif und ein bisschen wehmütig darauf hinweisen, dass die E-Mail den traditionellen Brief in weiten Bereichen abgelöst habe. Außerdem ermahnen sie uns mit erhobenem Zeigefinger, beim Verfassen von E-Mails dieselbe Sorgfalt walten zu lassen, mit der wir auch einen Geschäftsbrief auf unserer guten alten Olivetti getippt hätten.

 

Als die E-Mail vor langer Zeit für den geschäftlichen Schriftverkehr entdeckt wurde, sah man neben den Kosteneinsparungen beim Porto besonders die Möglichkeit der asynchronen Kommunikation als Vorteil. Man konnte Anfragen per E-Mail genauso schnell und unaufwändig stellen wie mit einem Telefonat, war aber nicht von der Erreichbarkeit des Empfängers abhängig. Dieser erhielt die Nachricht sofort und konnte zu einem beliebigen Zeitpunkt antworten. Heute ist das anders: Viele Menschen verbringen den größten Teil ihrer Zeit online und beglücken ihre Kommunikationspartner mit einem quasi-synchronen Kommunikationsverhalten. So manche Kommunikationsteilnehmer, die das Instant Messaging noch nicht für sich entdeckt haben, führen elektronische Dialoge, bei denen eine Vielzahl von Frage/Antwort-E-Mails in raschem Wechsel ausgetauscht werden, bis ein Problem gelöst oder ein Thema ausdiskutiert ist.

 

Die schriftliche Kommunikation verändert sich also. Sie wird immer schneller und gleichzeitig informeller. Nur in einem Bereich vertrauen die allermeisten E-Mail-Schreiber den altbackenen Ratgebern und verharren in einer traditionellen, erlernten Verhaltensweise, die sie jede Nachricht reflexartig mit einem Gruß beenden lässt - selbst dann, wenn sie wenige Minuten vorher noch persönlich mit dem Empfänger gesprochen haben oder der letzte, ebenfalls mit einem Gruß beendete E-Mail-Austausch noch keine halbe Stunde zurückliegt. Aber warum tun wir das eigentlich? Warum grüßen wir einander?

 

Im persönlichen Umgang miteinander signalisieren wir mit einem Gruß unterschiedliche Sachverhalte:

 

  • Wir freuen uns, jemanden zu sehen, der uns nahesteht. Wenn wir einen Freund auf der Straße treffen, sagen wir zum Beispiel: „Hi, wie geht es dir?“
  • Wir sprechen mit jemanden, dessen Partner, Kinder oder Freunde wir ebenfalls kennen und länger nicht gesehen haben. Deswegen tragen wir unserem Gesprächspartner Grüße auf. Dies kann ernst gemeint sein ("Grüß deine liebe Frau von mir!") oder eine Höflichkeitsfloskel ("Gruß zuhause!")
  • Wir gewähren jemandem Zutritt zu einem uns angestammten Bereich. Wenn ein Kunde unseren Laden betritt, sagen wir etwa: „Guten Tag, was kann ich für Sie tun?“
  • Wir zeigen dem anderen, dass wir seine Anwesenheit bemerkt haben. Wenn wir an der Bushaltestelle jemanden treffen, den wir schon öfters dort gesehen haben, nicken wir und murmeln: „Tag“.

 

Diese Arten, sich zu grüßen, unterscheiden sich sicher in ihrer emotionalen Wertigkeit. Trotzdem haben sie eines gemeinsam: Sie beziehen sich auf eine singuläre Begegnung im wirklichen Leben, auf ein Ereignis, das sich nicht pausenlos wiederholt und deswegen einen Gruß wert ist. Darin unterscheiden wir Menschen uns von den Wildschweinen, die im Wald aneinander vorbeilaufen, ohne sich anzugrunzen.

 

Als die Menschen damit begannen, per Brief miteinander zu kommunizieren, war es nur folgerichtig, diese Verhaltensweise von der mündlichen auf die schriftliche Kommunikation zu übertragen. Es wäre unnatürlich gewesen, eine geschriebene Mitteilung an jemanden, der weit entfernt war und mit dem man auf keine andere Weise kommunizieren konnte, nicht mit einem Gruß zu beenden, der Sympathie, Wertschätzung, Respekt oder Hochachtung ausdrückte. Schließlich teilte eine solche schriftliche Mitteilung eine wichtige Eigenschaft mit den geschilderten Situationen in der mündlichen Kommunikation: Sie war ein singuläres Ereignis. Einen Brief schrieb man nicht alle Tage.

 

Seit dieser Zeit ist viel passiert. Man hat schon lange keine Postkutschen mehr auf unseren Straßen gesehen. Vielleicht wird es Zeit, dass wir die Art und Weise, wir wir per E-Mail grüßen, kritisch unter die Lupe nehmen. Versuchen wir also erst mal eine Bestandsaufnahme. In meine eigenen schriftlichen Kommunikation habe ich bisher die folgenden Typen von Grüßern identifizieren können.

Der Reflexgrüßer

Diese Art von Grüßer hat sich irgendwann einmal entschieden, seine E-Mails wie folgt zu beenden:

 

Viele Grüße

Max

 

Seitdem schreibt er diese zwei Zeilen unter jede seiner E-Mails. Die Finger fliegen dabei wie von selbst über die Tastatur, bevor Sie auf Senden klicken. Der Reflexgrüßer findet diesen Gruß für alle Adressaten passend: Vom Kollegen am Nachbartisch über den Chef bis hin zu seiner Mutter. Deswegen muss er beim Grüßen nicht nachdenken.

Der Signaturgrüßer

Hier handelt es sich um die konsequente Weiterentwicklung des Reflexgrüßers. Dieser Typ hat seine E-Mail-Software so eingestellt, dass sie jeder ausgehenen Nachricht automatisch den folgenden Textbaustein anhängt:

 

Viele Grüße/Kind regards/Cordialement

Max Mustermann

max.mustermann@example.com

T +49(123) 45 67 89

F +49(123) 98 76 54

 

Diese Art zu Grüßen erfordert noch weniger Anteilnahme als das Reflexgrüßen, denn sie ist vollkommen automatisiert und kann deswegen auch ohne Mehrkosten in mehreren Sprachen erfolgen. Egal, wer diese Nachricht erhält: Eine der drei Sprachen wird er oder sie schon verstehen, und sich folglich gegrüßt fühlen können.

Der Kürzelgrüßer

Im Vergleich zur E-Mail animiert eine SMS den Verfasser zur Kürze, denn die Texteingabe ist – zumindest auf herkömmlichen Mobiltelefonen – vergleichsweise mühsam. Deswegen sind die „vielen Grüße“ dort zu „VG“ mutiert. Der Kürzelgrüßer überträgt diese ökonomische Art des Grüßens auf den E-Mail-Verkehr und schreibt am Ende einer Nachricht:

 

VG Max

 

Etwas herzlichere Kürzelgrüßer verwandeln die "vielen Grüße" in "liebe Grüße" und schreiben "LG". Dieses Kürzel findet mittlerweile aber selbst im geschäftlichen Umfeld breite Verwendung, so dass mancher Kürzelgrüßer zu "GLG" übergegangen ist, um eine Extraportion Liebe in den Gruß zu packen ("ganz liebe Grüße"). Vielleicht ist der Autor des einschlägigen Wikipedia-Artikels deswegen davon überzeugt, dass Kürzelgrüßen keine gute Sache ist ("Zu empfehlen sind die Abkürzungen im Allgemeinen nicht"). Einen Beleg für diese Aussage bleibt er jedoch schuldig.

Der Alternativgrüßer

Dieser Grüßer-Typ zeigt durch sein Verhalten, dass die These des vorliegenden Beitrags, die besagt, dass wir in unserer E-Mail-Kommunikation geradezu inflationär grüßen, nicht vollkommen haltlos ist. Er beendet seine Nachrichten nämlich wie folgt:

 

Tschüss

Max

 

Manchmal sieht man auch die Verwendung anderer Abschiedsfloskeln ("Ciao", "Servus"), die aber alle eines gemeinsam haben: Sie sind zwar Abschiedsgrüße, vermeiden das Wort "Gruß" aber und bemühe sich somit, trotzig aus dem Einheitsbrei der "vielen" und "lieben" Grüße hervorzustechen. Ich vermute, die meisten Alternativgrüßer würden den Gruß lieber ganz weglassen, weil sie ihn für sinnlos halten, trauen sich aber nicht so recht.

 

Der Garnichtgrüßer

Der Garnichtgrüßer beendet seine E-Mails wie folgt:

 

Max

 

Das Nicht-Grüßen ist bei ihm die Regel. Wenn er seinen E-Mails doch einmal einen Gruß hinzufügt, hat man den Eindruck, dass er es ernst meint. Dieser Typ kommt leider so selten vor, dass es methodisch zweifelhaft ist, ihn in eine Reihe mit den drei anderen zu zu stellen. Ich tue es trotzdem, um ihn aufzumuntern.

Wir sehen also: Es gibt unterschiedliche Arten, E-Mails mit einem Gruß zu beenden, die aber eine wichtige Gemeinsamkeit haben: Die Botschaft, die durch den Gruß transportiert wird, bezieht sich in vielen Fällen nicht mehr auf die Beziehung zwischen Grüßer und Gegrüßtem. Sie beschränkt sich auf den simplen Sachverhalt, dass das Ende der Nachricht erreicht ist. Dies ist besonders im geschäftlichen Umfeld nützlich, wo E-Mails häufig mehrfach an mehrere Personen weitergeleitet und kommentiert werden und den Charakter einer asynchron geführten Diskussion haben. Hier muss jeder Diskussionsteilnehmer deutlich machen, wo sein Beitrag beginnt und endet, und in Ermangelung einer Alternative verwendet man dazu eine Grußformel.

In diesem Zusammenhang ist ein vergleichsweise neuer Nachrichtentypus interessant. Das Netzwerk Facebook bietet seinen Mitgliedern unterschiedliche Möglichkeiten, miteinander zu kommunizieren. Da ist zunächst einmal die klassische persönliche Nachricht, die von einer E-Mail nur davon zu unterscheiden ist, dass man sie nicht an beliebige Personen, sondern nur an seine Facebook-Freunde schicken kann. Deswegen folgen diese Nachrichten häufig dem traditionellen Gestaltungsmuster von "Anrede, Text, Gruß". Neben diesen persönlichen Nachrichten gibt es aber zwei weitere Nachrichtentypen, die häufig genutzt werden:

  • Man schreibt an die "Pinnwand" eines Facebook-Freundes. Die Nachricht ist für ihn persönlich bestimmt, aber alle Facebook-Freunde des Empfängers können sie ebenfalls sehen.
  • Man erfasst einen Kommentar zu einer Statusmeldung, einem Bild oder einem Video, das jemand in seinem Facebook-Profil veröffentlicht hat.

In beiden Fällen fehlen häufig die Grußformeln, mit denen wir in der täglichen E-Mail-Kommunikation überschwemmt werden, und doch käme wohl niemand auf die Idee, dies als unhöflich zu werten. Ähnliches gilt für Direktnachrichten über Twitter - hier gilt eine Beschränkung auf 140 Zeichen, so dass der Platz einfach zu schade ist, um mit Grüßen gefüllt zu werden, die ohnehin keine Bedeutung haben. Bei E-Mails sieht das anders aus.

Ich persönlich versuche gerade zum wiederholten Male, mich vom Kürzelgrüßer zum Garnichtgrüßer zu entwickeln. Wenn ich jemanden "herzlich", "freundlich" oder "lieb" grüße, dann soll es ernst gemeint sein und keine Floskel. Diese Entscheidung bringt jedoch Schwierigkeiten mit sich. Das Fehlen eines Grußes, und sei es nur ein läppisches "VG", taucht den Rest des Nachrichtentextes in ein völlig anderes Licht. Vermutlich liegt dies nicht zuletzt daran, dass manche Kommunikationsteilnehmer den Gruß nur dann weglassen, wenn sie auf billige Art und Weise anzeigen möchten, dass sie verärgert sind. Machen Sie doch einmal den Selbsttest und entfernen Sie den Gruß am Ende einer E-Mail, die Sie gerade verfasst haben. Dann lesen Sie den Text noch einmal mit den Augen des Empfängers. Ich bin davon überzeugt, dass er ganz anders wirken wird: Aus Bitten werden plötzlich Anweisungen, Behauptungen verwandeln sich in versteckte Vorwürfe und hinter harmlosen Fragen scheint Kritik zu lauern.

Gibt es einen Ausweg aus diesem Dilemma? Ich glaube ja. Wenn man sich zwingt, die Grußformel wegzulassen, gleichzeitig aber nicht unhöflich wirken will, muss man die Freundlichkeit eben im Rest des Textes unterbringen. Das kostet aber natürlich Zeit, die man nicht immer hat. Ein Kompromiss kann darin bestehen, den Gruß durch einen freundlichen Schlusssatz zu ersetzen, den man nicht - wie einen formelhaften Gruß nach DIN 5008 - durch eine Zeilenschaltung vom Rest des Texts absetzt. Hier sind einige Beispiele - ob sie sich eher für die geschäftliche oder die private Kommunikation eignen, muss jeder für sich entscheiden:

  • Sag mir Bescheid, wenn du weitere Infos brauchst.
    Max
  • Ich hoffe, es geht dir gut!
    Max
  • Ich hoffe, das hilft dir weiter.
    Max
  • Ich freue mich schon auf unser nächstes Treffen!
    Max
  • Danke dir.
    Max
  • Hope you are doing well.
    Max
  • Let me know if you need more info.
    Max
  • Thanks for your support.
    Max

Wo ist der Unterschied zwischen einem Gruß und einem solchen Schlussatz? Der Gruß ist in vielen Fällen ein bedeutungsarmer Reflex. Einen abschließenden Satz dagegen muss man bewusst formulieren oder zumindest auswählen. Wenn ich eine E-Mail ohne Gruß erhalte, freue ich mich, denn ich weiß dann, dass der Absender entweder darüber nachgedacht hat, wie er mit mir kommuniziert, oder sich so vertraut mit mir fühlt, dass er mich nicht ständig grüßen muss. Beides ist mir viel lieber als formelhafte Freundlichkeit.